In dieser Woche unseres Fastenzeitprojekts »Über(s) Leben« möchten wir euch zu einem Experiment einladen. Dazu erzählen wir euch zunächst eine kleine Geschichte:
Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht’s mir wirklich. – Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch noch bevor er »Guten Tag« sagen kann, schreit ihn unser Mann an: »Behalten Sie sich Ihren Hammer, Sie Rüpel!«
Paul Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein
Wie entstehen Konflikte?
Diese Geschichte zeigt uns: Konflikte und Auseinandersetzungen haben ihren Grund nicht immer in der Wirklichkeit, sondern vielmehr in den Annahmen, die wir über die Wirklichkeit und über unsere Mitmenschen treffen.
Um uns im Alltag orientieren zu können, sind wir auf Modelle angewiesen, die wir uns bilden. Ich habe eine bestimmte Vorstellung davon, was mich in einer Situation erwartet und diese Vorstellung hilft mir meist, mit der Situation gut zurecht zu kommen. So weiß ich etwa, dass ich in einem Examen nicht diskutieren kann, sondern die Prüfungsfragen beantworten muss. Ähnliche Modelle bilde ich mir im Umgang mit meinen Mitmenschen.
Aber solche Modelle können mir manchmal auch ein falsches oder missverständliches Bild der Situation vermitteln. Meine Wahrnehmung und mein Urteil können durch kognitive Verzerrungen und unbewusstes Framing beeinflusst sein. Eine typische Verzerrung besteht z.B. darin, die Ursache für ein bestimmtes Verhalten in den Charaktereigenschaften einer Person zu sehen und nicht in den Umständen der jeweiligen Situation. So haben wir alle schon mal reagiert: »Der macht das ja nur, weil er sich für was besseres hält, weil er ein Ausländer ist usw.«
Solches Framing führt dann unter Umständen zu regelrechten Unterstellungen, dass ich den anderen Menschen als mir feindlich gesinnt wahrnehme, obwohl der gar nichts gegen mich hat. Viele zwischenmenschliche Konflikte haben ihren Ursprung darin, dass Menschen sich gegenseitig unlautere Interessen oder böse Absichten unterstellen. Besonders dann, wenn wir uns in einer inneren oder äußeren Krise befinden, neigen wir dazu, von unserem Gegenüber eher das Schlechteste zu denken und seine Äußerungen und Absichten in der maximal möglichen negativen Weise zu interpretieren.
Das »principle of charity«
Ein Weg Konflikte aufzulösen und zu mehr gegenseitigem Verständnis zu finden, könnte daher darin bestehen, dieses negative Framing umzudrehen. Dazu können wir auf eine Methode zurückgreifen, die eigentlich aus der Logik und Argumentationstheorie kommt, sich aber sehr gut auch auf die zwischenmenschliche Kommunikation übertragen lässt. Diese Methode heißt »principle of charity« und besteht darin, Verhaltensweisen und Äußerungen meines Gegenübers in einer möglichst wohlwollenden und positiven Weise zu deuten. Das heißt nicht, dass der Andere immer recht hat oder ich mir alles gefallen lassen muss. Es heißt nur, dass ich nicht vorschnell urteile, mir wirklich die Mühe mache, auf mein Gegenüber einzugehen und seinen Aussagen keine Unwahrheit oder gar Bösartigkeit zuschreibe, wenn eine andere Deutung ebenfalls möglich ist. Vielleicht habe ich noch nicht alle Informationen, um eine bestimmte Situation richtig zu verstehen, vielleicht gehen mein Gesprächspartner und ich von unterschiedlichen kulturellen oder sprachlichen Voraussetzungen aus. Und selbst wenn wir feststellen, dass einer von uns sich geirrt hat, muss das keine Absicht gewesen sein.
Das Experiment
Wir laden euch ein, als ein kleines Experiment, eine Woche lang nach dem »principle of charity« zu leben. Das heißt: jedes Mal wenn mich etwas oder jemand ärgert, wenn ich mich in einer Situation angegriffen, ignoriert, missverstanden oder beleidigt fühle, überlege ich zunächst, ob das von meinem Gegenüber tatsächlich so gemeint war und ich versuche, eine möglichst wohlwollende Interpretation für sein Verhalten zu finden. Natürlich darf ich meine Irritation und mein Unverständnis trotzdem aussprechen (manchmal muss ich das sogar ganz unbedingt), aber ich tue das vielleicht in anderer Weise, wenn ich vorher überlegt habe, wie ich den Anderen bestmöglich verstehen kann.
Wenn ich das »principle of charity« als persönliches Alltagsexperiment ausprobiere, kann ich womöglich interessante Erfahrungen machen: Wie verändert sich der Umgang mit meinen Mitmenschen? Nehmen Konflikte und Streitigkeiten ab? Habe ich den Eindruck, dass das gegenseitige Verständnis wächst? Werden Gespräche vielleicht tiefgründiger und Begegnungen bereichernder?
Wenn ich euch auf dieses Experiment einlassen wollt, könnt ihr euch vielleicht ein paar Notizen machen, was sich in eurem Alltag verändert. Bringt das »principle of charity« mehr inneren und äußeren Frieden in euer Leben? Oder bemerkt ihr keine positiven Veränderungen?
Wenn ihr mögt, könnt ihr uns gerne an euren Erfahrungen teilhaben lassen und uns (am besten per E‑Mail) schreiben, wie es euch ergangen ist. Wir freuen uns auf euer Feedback!