
Was hat unser Glaube mit einem Fahrrad zu tun? Eine ganze Menge, wie dieser Podcast hoffentlich zeigen kann.
Herzlich willkommen zu »Über(s) Leben«, dem Fastenzeitprojekt der Campusgemeinde Regensburg. Ich bin Hermann Josef Eckl und möchte heute mit euch darüber nachdenken, was unser Glaube mit einem Fahrrad zu tun hat. Eine ganze Menge, wie sich hoffentlich gleich zeigen wird. In dieser Woche geht es bei »Über(s) Leben« ja um die Frage, wie wir uns als Christinnen und Christen den Herausforderungen der heutigen Welt stellen können und den vielen gesellschaftlichen und politischen Zukunftsfragen, die wir spätestens »nach« der Corona-Pandemie bewältigen müssen.
Fromm sein genügt?
Und da würden einige gleich einwenden, dass wir als Glaubende von solchen Fragen besser die Finger lassen sollten und uns damit beschäftigen, wofür wir eigentlich zuständig sind: für Gebet und Gottesdienst.
Als der Chefredakteur einer angesehenen Tageszeitung vor einiger Zeit, als die Weihnachtsgottesdienste noch im großen Rahmen gefeiert werden konnten, eine Christmette besuchte, war er ziemlich irritiert über die Predigt. Dort hörte er, dass Christ:innen sich für Geflüchtete einsetzen sollten, weil schließlich Jesus selbst nach seiner Geburt aus seiner Heimat fliehen musste. So etwas wolle er nicht hören, meinte der Journalist, das würde ihm die Stimmung verderben. In der Kirche würde es seiner Meinung nach genügen, einfach nur fromm zu sein.
Einfach nur fromm. Dazu hat man auch Papst Franziskus ermahnt, als der in einem seiner ersten Lehrschreiben über unsere Wirtschaftsordnung das Urteil gefällt hatte: »Diese Wirtschaft tötet.« Nach Meinung des Papstes reicht es nicht aus, »auf die blinden Kräfte und die unsichtbare Hand des Marktes zu vertrauen«, weil dadurch nämlich immer mehr Menschen ausgegrenzt und wie Müll behandelt würden.
Aber – so haben viele dann eingewandt – der Papst versteht doch gar nichts von Wirtschaft. Dafür gibt es Fachleute. Der Papst und seine Christen sollen sich um das Beten kümmern und sich aus Wirtschaft und Politik heraushalten.
Die Zeichen der Zeit erkennen
Aber schon Jesus war da anderer Meinung. »Das Aussehen der Erde und des Himmels könnt ihr deuten,« sagt Jesus zweimal in den Evangelien, „warum könnt ihr dann die Zeichen dieser Zeit nicht deuten?“
Im Zweiten Vatikanischen Konzil ist die Frage nach den „Zeichen der Zeit“für die Kirche entscheidend geworden. Wir können als Christinnen und Christen nicht in dieser Welt leben, ohne wahrzunehmen und darauf zu reagieren, was in der Welt passiert, was »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute« ausmacht, „besonders der Armen und Bedrängten aller Art« (Gaudium et Spes 4), so heißt es in einer berühmt gewordenen Formulierung des Konzils.
Wie sieht das dann für unsere Gegenwart aus? Was sind die Zeichen unserer Zeit? Beunruhigend finde ich, dass wir uns als Gesellschaft insgesamt diese Frage momentan gar nicht so deutlich stellen. Es scheint, als wäre alles durch die Corona-Pandemie überdeckt.
Dabei dürfte Corona trotz allem Ernst eines der geringeren Probleme für die Menschheit sein. Im Hintergrund lauern noch ganz andere Herausforderungen, die wir zur Zeit vernachlässigen. Und einige davon, werden durch die Pandemie sogar noch verschärft. So sind etwa die internationalen Online-Konzerne die großen Gewinner der Pandemie, während kleine Unternehmen und Geschäfte zunehmend in Schwierigkeiten geraten. Ein bekannter Logistikkonzern hat seinen Gewinn zuletzt verdreifacht. Sein Inhaber, vorher schon der reichste Mensch der Erde, konnte sein persönliches Vermögen weiter auf 180 Milliarden Dollar vermehren und liefert so ein Beispiel dafür ab, wie die Schere zwischen Arm und Reich global immer weiter wächst. Mehr als 80% des weltweiten Vermögens befinden sich in den Händen von nur einem Viertel der Bevölkerung.
Wir, in einem der reichen Länder dieser Erde gehören zwar zu den Profiteuren dieser Situation, aber auch bei uns wächst die Ungleichheit. Arbeitnehmer haben es zunehmend schwerer für ihre Rechte einzutreten und einen gerechten Lohn für ihre Arbeit zu fordern. Gerade viele der Internetkonzerne dulden es nicht, dass Arbeitnehmer sich organisieren und sich Gewerkschaften anschließen. So sind viele der neuen Arbeitsplätze prekär und im Niedriglohnsektor angesiedelt. Schauen wir nur auf die vielen Fahrradkuriere, die während der Pandemie Essen ausfahren. Während einer der Lieferdienste an der Börse notiert ist, werden diejenigen, die auf dem Fahrrad strampeln, nach Mindestlohn bezahlt.
Und vielleicht wird Arbeit in Zukunft sogar ganz überflüssig. Maschinen können immer besser das, von dem wir dachten: Das macht eigentlich unser Menschsein aus. Jetzt schon werden wir von Robotern operiert, die chirurgische Eingriffe präziser erledigen als ein Arzt das kann. Und der Online-Unterricht, der momentan praktiziert wird, kann womöglich den Lehrer im Klassenzimmer zukünftig überflüssig machen. Vielleicht werden Schüler:innen und Studierende bald nur noch zuhause lernen und von Lernprogrammen mit freundlichen Avataren gecoacht?
Wir sehen: die Zeichen unserer Zeit sind teilweise sehr beunruhigend und erfordern dringend, dass wir uns damit auseinander setzen.
Glaube auf zwei Rädern
Wir sind Erben der gefährlichen und befreienden Erinnerung an Jesus. Er ist auferstanden, um alle zu stärken, die eine neue Gesellschaft wollen: eine Gesellschaft der geschwisterlichen und fürsorglichen Beziehung zur Natur, zu allen Menschen und zum Gott der Zärtlichkeit und der Güte
Leonardo Boff
Der Befreiungstheologe Leonardo Boff meint daher, dass unser Glaube wie ein Fahrrad sein müsse. Er braucht die Übersetzung ins konkrete Leben und den festen Kontakt mit der Erde. Wie jedes Fahrrad muss daher auch der Glaube zwei Räder haben: das Rad der Religion und das Rad der Politik.
Das eine Rad ist die persönliche Gotteserfahrung im Gebet, in der Meditation, im Gottesdienst und die Begegnung mit Jesus durch das Evangelium. Daraus kommen unsere Werte und unser Menschenbild.
Auf einem Rad aber fährt man nicht gut. Fromm sein allein genügt eben nicht. »Ein Christentum, das vor allem andächtig ist, geprägt von Messen und Rosenkränzen« ist zu wenig, sagt Boff. »Fast nie geht es um soziale Gerechtigkeit, das Drama von Millionen Arbeitsloser, den Schrei der Unterdrückten oder das Stöhnen der Erde.« Wir dürfen der Realität dieser Kämpfe nicht ausweichen. Sonst verstehen wir gerade im Blick auf Ostern nicht, »warum Jesus festgenommen, gefoltert, verurteilt und zum Tod am Kreuz gebracht wurde.« Wir machen uns »ein bequemes Christentum, als ob Jesus als alter Mann gestorben wäre, umgeben von seinen Anhängern.«
»Der Glaube hat eben dieses zweite Rad: das Rad der Politik. Glaube«, so sagt Leonardo Boff weiter, »kommt zum Ausdruck durch die Praxis der Gerechtigkeit, der Solidarität, der Offenlegung von Unterdrückung, der Proteste über Grenzen hinweg und der universellen Geschwisterlichkeit.«
Wir gehen in der Fastenzeit auf Ostern zu und unser Projekt »Über(s) Leben« will uns dabei begleiten. Auf diesem Weg sollten wir daran denken, »dass wir Erben der gefährlichen und befreienden Erinnerung an Jesus sind. Er ist auferstanden, um im Namen des Gottes des Lebens den Aufstand gegen eine Politik zu beleben, die die Ärmsten benachteiligt und diejenigen verfolgt, die Gerechtigkeit predigen. Jesus stärkt alle, die eine neue Gesellschaft wollen: eine Gesellschaft der geschwisterlichen und fürsorglichen Beziehung zur Natur, zu allen Menschen und zum Gott der Zärtlichkeit und der Güte.«
Dein Feedback
Wie denkt ihr darüber? Auf welchen Rädern seid ihr mit eurem Glauben unterwegs und wo seht ihr dabei die Möglichkeiten, euch zu engagieren und euch für andere einzusetzen? Schreibt uns eure Meinung! Gerne per E‑Mail unter briefkasten@khg-regensburg.de
Zum Weiterlesen
- Jeff Bezos pulverisiert seinen Reichtumsrekord: https://www.handelszeitung.ch/panorama/172-milliarden-dollar-jeff-bezos-pulverisiert-seinen-reichtumsrekord
- Onlinehändler Amazon ist der grösste Gewinner der Pandemie: https://www.handelszeitung.ch/unternehmen/onlinehandler-amazon-ist-der-grosste-gewinner-der-pandemie
- Amazon ist der Krisengewinner Wie Gewerkschaften versuchen, bei dem US-Konzern Fuß zu fassen: https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/amazon-ist-der-krisengewinner-wie-gewerkschaften-versuchen-bei-dem-us-konzern-fuss-zu-fassen/26711176.html
- Corona: Kluft zwischen Arm und Reich nimmt zu. Pressemitteilung des Bündnis Entwicklung Hilft anlässlich der UN-Sondersitzung zu Corona: https://www.welthungerhilfe.de/presse/pressemitteilungen/2020/corona-pandemie-kluft-zwischen-arm-und-reich-nimmt-zu/
- Die globale Schere zwischen Arm und Reich: https://www.dw.com/de/die-globale-schere-zwischen-reich-und-arm/a‑15688312
- Leonardo Boff, Die politische Dimension von Glauben heute: https://leonardoboff.org/2020/11/14/die-politische-dimension-von-glauben-heute/